1 Jahr täglich Tagebuch schreiben – warum, wie und wann überhaupt!?
03.09.2022
Einige Momente bevor ich anfing, diese Zeilen in mein Laptop zu tippen, habe ich Tagebuch-Eintrag Nr. 365 in Folge geschrieben. Das ergibt: 1 Jahr Tagebuch schreiben, jeden Tag. Ohne Unterbrechung. In der Summe sind das fünf vollgeschriebene Bücher und fast 600 Seiten handschriftliches Leben. (Dies ist ein redigierter Post aus 2019. Also: Es ist sozusagen gleichzeitig Januar 2019 und September 2022.)
Warum Tagebuch schreiben?
Ganz einfach: Mein Therapeut hat gesagt, ich soll das tun.
Und weil der mich sehr gut kennt, und ich auf ihn höre, bin ich am 17. Januar 2018 losgezogen und habe mir ein Leuchtturm Composition Notizbuch und einen Lamy vista-Füller gekauft. (Beides Affiliate-Links). Seine Idee war wohl, dass ich damit ein vor mir liegendes und anspruchsvolles 2018 in den Griff kriegen sollte. Der Plan klang gut. Doch ich hatte keine Ahnung, wie das geht, Tagebuch schreiben.
Damals hinterm Mond
Okay. In den wilden 1990ern, als ich mal irgendwas zwischen unglücklich und völlig falsch verliebt in A. war, habe ich das auch gemacht. Für ein paar Monate, unregelmäßig. Und bestimmt ganz fürchterlich kitschig bis melodramatisch. Daran erinnerte ich mich. Auch, dass mir das damals geholfen hat, diese emotional anspruchsvolle Zeit zu sortieren. Mit meiner guten Seele ins „Gespräch“ zu kommen. Abgesehen von diesen wenigen Wochen hatte ich jedoch keinerlei Erfahrung im „Tagebuch schreiben“.
„Schreiben“ als solches hingegen ist mir natürlich überhaupt nicht fremd. Das war ganz klar. Mit vielen Jahren auf Poetry Slam-Bühnen und einem ganzen Buch voll mit Geschichten machte ich mir da keine Sorgen. Oder vielleicht gerade deshalb. Der Storyteller in mir wollte wissen: Welche Struktur würde das alles haben müssen? Braucht es einen Faden? Gibt es Akte? Und wer ist eigentlich das Publikum?
Braindumping als Technik des Tagebuch-Schreibens
Völlig überfordert tat ich das, was ich immer tue, wenn mir etwas begegnet, das ich tun möchte, jedoch keine Ahnung habe, wie das geht: Ich fange einfach mal an und „spiele“, als würde ich das gerade neu erfinden. Siehe dazu auch den vorherigen Artikel: Wie ich den Podcast erfunden habe. Und YouTuben. Vom „Kreativ sein“.
Also eine lila Patrone in den Füller und losgeschossen. Der erste Eintrag ist vom 17.1.2018, 6 Uhr 27. Ich hatte beschlossen immer zu schreiben, bevor die anderen aufstehen würden. Und so beginnt mein erstes Tagebuch mit den Worten
Okay, liebes Tagebuch. Wir haben jetzt nicht viel Zeit.
Dann flossen die Worte und Gedanken aufs Papier. Toll.
Parallel zu den ersten Einträgen, begann ich, der Informations-Junkie, meine Fühler auszustrecken und mich ein wenig einzulesen ins Tagebuch schreiben. Nicht tief, aber einige wenige Artikel. Wie und wann Menschen schreiben. An wen und für wen. Ziemlich bald, nach einigen Tagen, wurde mir klar, dass ich unbewusst der Technik des Braindumpings gefolgt war.
Braindumping bedeutet nichts anderes, als einfach mit dem ersten Gedanken, der einem in den Sinn kommt, drauf los zu schreiben und erst wieder aufzuhören, wenn man ein gesetztes Ziel erreicht hat. Eine bestimmte Zeit, eine definierte Anzahl an Seiten. Ich entschied mich für mindestens eine Seite. Meine Schrift ist ausreichend klein und die Lineatur im Leuchtturm passend eng. So kommt man automatisch, je nach Schreibgeschwindigkeit auf gute 10 Minuten Journaling Minimum am Tag.
Meist wird es dann mehr. Denn Braindumping ist das, was es bedeutet: Man rotzt seine Gedanken einfach mal leer und schon sehr bald setzt laterales Denken ein. Ostwestfälisch gesagt: Man kommt von Höcksken auf Stöcksken. Und dann ist man tief in einem Thema und damit in seinem Mind, weiter als man es an diesem kalten, dunklen Morgen mit dem viel zu starken Kaffee je gedacht hätte.
Weitere Methoden für deine Tagebuch und Journaling Praxis
Der Kreativunternehmer Campbell „Struthless“ Walker aus Australien hat auf seinem (großartigen) YouTube ein Video über weitere spannenden Journaling Techniken. Natürlich spricht nie etwas dagegen, das bunt zu mischen. Wozu auch. Ist ja dein Ding.
Schreiben als Schleimspur des Denkens
Irgendwann wurde mir klar, warum das Schreiben eines Tagebuchs, vor allem als Braindumping, so großartig ist, die Gedanken zu klären: Es kommt einem beim Schreiben ein Gedanke, ein Satz in den Sinn.
Im „normalen Leben“, jenseits des Journaling, kommt direkt nach einem Gedanken, ohne Pause, etwas anderes. Eine Unterbrechung des Gedankenflusses. Jemand spricht dich an, dein Handy piept, dir juckt die Nase.
Nicht beim Schreiben. Denn den Gedanken aufzuschreiben erfordert ja eine gewisse Zeit, zwar kurz, aber doch relevant. Dein Gehirn ist soviel schneller als Deine Hand. Diese Zeit, die deine lahme Hand benötigt, den Gedanken festzuhalten ist die Spanne in der Dein Gedanke Raum hat, weiter in dein Mind hineinzukriechen und sich zu Ende zu denken. Oder den Staffelstab an einen neuen Folgegedanken zu reichen. So entsteht ein echter und wertvoller Gedankenfluss.
Dein eigener Stuhlkreis
Und hier kommen wir auch zur oben von mir gesuchten „Zielgruppe“: Dies sind die verschiedenen Persönlichkeitsanteile an dir. Dein „liebes Tagebuch“ ist nichts anderes als ein großer Stuhlkreis mit dir selbst. Dein Bewusstsein, dein Unterbewusstsein, dein Ego und all die anderen Freunde und auch die Nervtöter, die sonst unbemerkt in deiner guten Stube abhängen und dir das Leben oft schwer machen.
Tagebuch schreiben schenkt dem, was man „Mind“ nennt, ausreichend Zeit, Gedanken weiter, vielleicht sogar mal bis zum Ende, einem Fazit, zu denken. Und so oft genug einen wertvollen, für dich Gewinn bringenden nächsten Gedanken zu finden. Und aus allen diesen Gedanken heraus, mittelfristig dein Mindset sogar zu verändern.
Warum jeden Tag?
Das ist eine bewusste, persönliche Entscheidung. Zum einen fordert es mich heraus. Auf einer Ebene, die ich hier nicht ausbreiten will. Aber auch auf einer anderen, nämlich mich mit meinen Gedanken wenigstens kurz auseinander zu setzen. Ihnen einen kleinen Raum zu geben. Ganz egal, wie hektisch und voll der Tag wird oder war (bald habe ich dann auch später am Tag geschrieben. Oft Abends, wenn alle im Bett waren.)
Nicht immer entstehen dabei wegweisende Einträge. An einigen wenigen Tagen, die laut und bunt und vor allem lang waren, gab es auch Einträge, die nur wenige Zeilen lang waren. Aber niemals habe ich die Kette unterbrochen. Und auch hier, wenn ich eigentlich nur wenig schreiben wollte, sind oft aus geplanten, hinzurotzenden Kurzmitteilungen an das Hirn, mehrere Seiten wahre Erkenntnisse geworden.
Über das Schreiben wirklich zu sich selbst kommen
Immer wieder bin ich meinem Selbst, dem was ich wirklich bin, nahe gekommen. Habe Gedankenkonzepte und Konstrukte gefunden, die mir seitdem helfen, mich und das, was mein Leben ausmacht besser zu verstehen und auf Situationen angemessen zu reagieren. Sowohl die guten als auch die kleinen und großen Krisen. Ich habe meine grundlegenden Lebenswerte herausgearbeitet und definiert. Seit Monaten weiß ich durchs Schreiben, auf welchen Konstanten mein Leben ruht und damit, was es zu hegen und pflegen gilt. Nach und nach ist neben der eigentlichen Auseinandersetzung mit den Themen des Alltags – sowohl persönlich als auch als Kreativunternehmer – ein Framework für mein Leben entstanden.
Ich redigiere diesen Text gerade, am 3.9.2022, und freue mich dass nun, da ich tatsächlich nicht mehr täglich, aber doch regelmäßig Tagebuch schreibe, alles das was ich 2019 in der originalen Fassung dieses Posts festgehalten und herausgefunden habe tatsächlich manifestierter Teil meines Lebens und meiner Herangehensweise an dieses ist. Ich bin zu 1000% sicher, dass dies ohne den Arschtritt meines Therapeuten Anfang 2018 nicht in dieser Konsequenz entstanden wäre.
Ein paar Tipps für den Anfang
Kauf dir ein passendes Notizbuch und einen Stift, mit dem du gerne schreiben möchtest. Auch einen Marker, um wichtige Passagen zu markieren. Dringend rate ich dir davon ab, das digital zu machen. Das habe ich probiert. Das hat null funktioniert.
Es geht ums Schreiben. Nicht um Kunst und Perfektion, Nobelpreise oder bunte Kringel. Das ist kein Jahrhundertwerk und auch kein Bullet Journal, sondern ein Wohlfühlort für dein Mind.
Niemand wird das jemals wieder lesen. Vermutlich du selbst auch nicht. Von den mittlerweile mehr als 10 vollgeschriebenen Büchern habe ich nur sehr selten noch einmal eins die Hand genommen.
Rede dir nicht ein, dass du nicht schreiben kannst. Tu es . Du willst ja was erreichen. Man sagt ja auch nicht „Ich bin nicht fit genug fürs Fitnesstudio“. Fang einfach an.
Setz dir ein machbares Ziel. Eine Seite pro Tag genügt völlig. Und wenn es der Tag nicht anders zulässt, auch mal eine Zeile.
Schreibe idealerweise jeden Tag. Je nach Schreibtempo und Ziel benötigt das nicht mehr als 10 bis 15 Minuten. Soviel Zeit hat jeder irgendwo.
Lege das Tagebuch und den Stift an einen festen Ort. Das verringert die Schwelle ungemein.
Sei es dir wert. Du bist großartig.
Wenn Du Fragen zum Thema „Tagebuch schreiben“ hast. Oder Anmerkungen. Oder ansonsten irgendetwas dazu loswerden möchtest, dann schreibe mir eine E-Mail an markus@freise.de. Ich freue mich drüber und drauf.