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Plötzlich ADHS. Seit immer schon.

19.07.2023

Jetzt auch zum Anhören …

Wenn Du lieber hörst, als liest: Hier findest Du die Inhalte des Blog-Posts im Stil einer Podcast-Episode. Freue mich, wenn Dir das Format gefällt und über Feedback dazu an markus@freise.de. (Meinen Podcast insgesamt zum Thema „Kreativunternehmertum“ und darüber hinaus findest Du auf der Podcast-Seite.)

Seitdem ich im Frühjahr 2023 die Diagnose „ADHS bei Erwachsenen“ habe, hatte ich den Drang, dazu in diesem Blog zu schreiben. Im Wesentlichen aus Chronisten-Pflicht. Damit es irgendwo steht. Und als so etwas wie ein „Outing“. Weil es mir wichtig ist, das ganz klar auszusprechen und in die Welt zu stellen. Um genau nicht darüber definiert zu werden.

Denn auch, wenn ich nun ebendieses Wissen um diese Ausprägung meines Wesens habe, so bin ich dann doch eben immer noch und gerade deshalb der Markus, der ich seit fünf Jahrzehnten bin. Es ändert ja erst einmal nichts. Ich will das deshalb nicht als Stigma tragen. Auch nicht als diese „SuPeRkRaFt“, als die es dort und da verkauft wird. Mich über irgendetwas zu definieren oder mich einer Gruppe anzuschließen, das war noch nie meins. Ich bin einfach ein wenig mental behindert. Mit allem, was so eine Behinderung mit sich bringt. Und dieses, doch zugegeben etwas größere Puzzlestück der Selbsterkennis, will ich mit euch teilen.

„Ich bin Jacks Dopamin-Mangel“

Dieser Beitrag soll mehr ein Aufstehen sein, wie man es aus Filmen kennt, wenn der Protagonist bei irgendeiner Selbsthilfegruppe ist und mit fester Stimme sagt: „Hallo, mein Name ist Markus und ich habe ADHS.“ So. Jetzt ist es raus. Ermutigender Applaus. Ich setze mich wieder hin. Erleichtertes Schnaufen. Danke. Schon besser. Kann jetzt jemand anderes übernehmen?

Obwohl, nein. Ein paar wenige Gedanken möchte ich doch loswerden. Und die Aussicht geben, dass es vielleicht in Zukunft weitere Artikel zu dem Thema geben könnte. Wie gesagt: Ich will ADHS nicht tragen wie eine Auszeichnung, mich nicht darüber identifizieren oder stigmatisieren. Aber es ist jetzt da. Und es zu ignorieren bringt ja auch nichts. Ein ADHS-Experte bin ich deshalb noch nicht. Erwartet also hier nicht die 10 besten Tipps, wie man so zurecht kommt. Obwohl, vielleicht bin ich doch ein Experte? Auf eine andere Weise? Kann sein. Dazu später mehr.

Buchtipps zum Thema „ADHS bei Erwachsenen“

Jesse J. Anderson

Extra Focus: The Quick Start Guide to Adult ADHD

Mehr dazu

Gabor Mate

Unruhe im Kopf: Über die Entstehung und Heilung von ADHS

 

Cal Newport

Deep Work – Rules For Focused Success

 

Was ADHS nicht ist und ist

Vorab eine sehr vereinfachte Definition:

ADHS ist keine Krankheit. Es ist ein anderer Gehirn-Stoffwechsel, als es ihn bei sogenannten „neurotypischen Menschen“ gibt. Wie und was genau in meinem Hirn anders oder nicht funktioniert, kann ich nicht erklären. Es ist sehr kompliziert, hat aber im Wesentlichen mit dem Neurotransmitter Dopamin zu tun und dass dieser nicht in der notwendigen Ausprägung zur Verfügung steht. Vereinfacht gesagt, ist Dopamin dazu da, uns zu motivieren, Dinge zu erledigen, die nicht unmittelbar und lebensbedrohend anstehen.

Aber die doch erledigt werden müssen. Eben damit das Leben smooth weiterläuft und erst gar nicht bedrohlich wird. Früher war das Vorräte für den Winter sammeln zum Beispiel. Heute geht das eher von Wäsche waschen, über Rechnungen rechtzeitig bezahlen bis Geschenke besorgen oder das Haus so zeitig verlassen, dass man ohne Stress zu irgendeiner Verabredung kommt. Vielleicht gelangweilt, aber doch gewissenhaft seinen Bürojob zu machen. Jeder von ADHS betroffene Mensch kennt hingegen Türme ungeöffneter Briefe mit unangenehmen Absendern, verpasste Dates mit sehr lieben Menschen und dieses wohlige Gefühl, das T-Shirt vom Boden aufzuheben und daran zu riechen. Um zu entscheiden, ob man das nicht doch noch einmal anziehen kann.

Weil man schlicht nicht daran gedacht hat, zu waschen. In ADHS-Biografien finden sich mehrfach wiederholte Schuljahre trotz hoher Intelligenz, verlorene Jobs, weil man einfach nicht 9-to-5 funktioniert hat oder Selbstständige, die unternehmerisch erfolgreich waren und dann an der Bürokratie und der Humorlosigkeit der Finanzämter krachend gescheitert sind. Gegen all das stehen jedoch einige äußerst positive Aspekte der ADHS. So zum Beispiel die Fähigkeit, sich auf Dinge, die Freude machen, maximal fokussieren zu können, ein äußerst kreativer Geist und oft eine hohe Intelligenz und schnelle Auffassungsgabe. Und vieles mehr. ADHS ist ähnlich wie Autismus ein Spektrum. Niemand hat alles und jede und jeder in verschiedenen Ausprägungen.

Aber das alles, was ich oben beschrieben habe, war und bin ich. Ohne Ausrede. Und ohne Flex. Ganz nüchtern.

Buchtipps zu ADHS und ADHS bei Erwachsenen

In meinen Buchtipps findest Du neben Büchern über viele Aspekte der persönlichen Entwicklung auch einige spezielle zum Thema ADHS und im speziellen ADHS bei Erwachsenen. Mit direkten Links zu Amazon.

Zum Bücherregal mit Buchtipps zu ADHS

Meine ADHS-Diagnose. Mehr Zufall als Wissenschaft

Gerne würde ich hier aufzeigen, wie man vom Verdacht „ADHS bei Erwachsenen“ über die Erkenntnis bis zu einer Diagnose und letztlich zur Therapie kommt. Denn das ist, nun da ich sowohl Diagnose als auch Medikamente habe, die häufigste Frage. Das kann ich aber nicht. Ich für meinen Teil hatte einfach verdammt viel Glück und kannte die richtigen Leute.

Denn nachdem ich im Herbst aufgrund einer handfesten Diagnose eines nahestehenden Menschen aus Neugier begonnen hatte, mich mit dem Thema zu beschäftigen, um diese Person besser zu verstehen, war schnell klar: Upsi, das bin ich ja auch. Alles das, was da beschrieben stand in den Büchern die ich darüber las und erzählt wurde in den Videos die ich mir ansah, das erklärte mein gesamtes Leben und all die Missgeschicke und Schwierigkeiten, denen ich begegnet war.

Aber auch, weshalb ich an einigen Stellen und in einigen Aspekten „anders“ war als die Menschen um mich herum. (Siehe oben. True Stories.) Bis zu diesem Zeitpunkt hätte ich niemals in Erwägung gezogen, dass ADHS für mich ein Thema sein könnten. Doch zum ersten Mal erkannte ich, dass ich nicht, faul, vergesslich, ungeschickt oder verpeilt war.

Ich war gar nicht falsch. Ich war anders richtig. Ich hatte einen roten Faden gefunden, der sich tatsächlich durch mein gesamtes Leben gezogen hatte. Wie und weshalb und an welchen Stellen, dafür fehlt hier der Platz und dir vielleicht die Zeit. Wenn du magst, erzähle ich es dir gerne mal alles persönlich.

Logisch, es gibt konkrete Hilfe für Menschen wie mich. In Form von Therapien und Medikamenten, die seit Jahrzehnten erprobt waren und sich mehr als bewährt hatten. Aber was neu für mich war: Ähnlich wie Diabetes ist ADHS etwas, das man problemlos in den Griff bekommen konnte. Und das vor allem die Medikamente einen schlechtere Ruf haben als Crack. Und das zu Unrecht. Dazu später mehr.

Ironie: Now they had my full attention

Obwohl ich natürlich nach fünf Jahrzehnten Leben und mehr als zehn Jahren Psychotherapie gelernt hatte ein doch irgendwie „normales Leben“ zu führen – nicht ahnend, dass unter allem diese ADHS lauerte – war ich deshalb sehr neugierig. Das wollte ich probieren. Vor allem dieses „Ritalin“. Ja natürlich, ich kam auch ohne zurecht. Und, nein, man merkte es mir nicht an, so im Alltag.

Aber wie ich einmal zu einem Freund, der sich wunderte, wieso ich als erfolgreicher Kreativunternehmer glaubte ADHS zu haben und er mir nach langen Jahren gemeinsamer Arbeit attestierte für einen Kreativen „echt gut organisiert zu sein“ sagte:

„Ja, Kevin, das ist richtig. Ich komme gut zurecht. Und nein, man sieht es mir nicht an. Was du aber nicht weißt ist, dass es für mich nahezu durchgehend bleischwer anstrengend ist, dieses Level zu halten und dieses Leben zu führen.“

Doctor, doctor …

Bald musste ich aber auch lernen: An eine Diagnose und Therapie zu kommen ist nicht nur nicht leicht, sondern sehr schwierig. Ich bin nach zahlreichen Telefonaten und E-Mails überzeugt, dass es fast einfacher ist, ein Date mit Taylor Swift zu ergattern, als auf einem regulären Weg eine Psychiatriepraxis zu finden, die sich mit „ADHS für Erwachsene“ auskennt und Testungen vornimmt – zumindest in Ostwestfalen.

ADHS-Testung auch remote? Jein. Aber Hybrid.

Da ich das regelmäßig im Feedback zu diesem Blogpost gefragt werden – und es auch im Audio oben erwähne: Mittlerweile habe ich eine Praxis für eine Testung gefunden. In Dresden. Das funktioniert auch Hybrid. Also: Kennenlernen remote, Testung vor Ort. Lieben Gruß an Herrn Schütz. Update: Aus Gründen musste ich die eigentliche Testung verschieben. Der erste Kontakt war aber sehr gut. So bleibt das eine Empfehlung.

To cut a possibly very long story short: ich hatte einfach pures Glück und/oder ein gutes Netzwerk. Ich hatte eine Freundin, die eine Neurologin kannte, die mir bestätigte, dass das alles sehr plausibel ist. Aber ohne Diagnose durch einen Psychiater kein Ritalin. Das erzählte ich einem befreundeten Arzt, der einen Psychiater aus dem Studium kannte. Es gingen ein paar WhatsApp und Fragebögen und Nachrichten hin und her. Und so hatte ich im Juni 2023 innerhalb weniger Tage eine ausreichende Diagnose und bald eine Medikation. Auf dem üblichen Weg hätte mich das in Bielefeld Monate gekostet. So nur ein Essen auf dem Siegfriedplatz und eine halbe Pizza in der L'Osteria.

Leider lässt sich nichts von diesen Erfahrungen in eine „Blaupause“ umwandeln. Kein Masterplan. Oder ein Buch. Nur, dass einmal mehr diese eine Weisheit, die meine Oma mir mit auf den Weg gegeben hat gegriffen hat: „Wer nicht fragt, bekommt auch keine Antwort.“

Das böse Ritalin-Gespenst

Um die Ritalin-Geschichte abzukürzen, weil dazu aus meiner bisherigen Erfahrung die meisten Fragen und Stirnrunzeln kamen und kommen: Es funktioniert wie bekloppt. Ich nehme die Minimaldosis von 10 mg am Tag. Wenn's haarig wird, auch mal 20 mg. Das genügt für mich und so halten sich Gott sei Dank alle Nebenwirkungen in Grenzen oder sind nicht spürbar. Auch nehme ich nicht Ritalin, sondern Medikinet. Mit dem gleichen Wirkstoff Methylphenidat wie in Ritalin, aber ein anderer Hersteller.

Methylphenidat ist jedenfalls schlicht ein Geschenk. Nicht weniger. Wenn auch du also neugierig bist und glaubst, dass ADHS dein Leben unnötig behindert: Lass dich nicht von Horror-Storys und German Angst über Ritalin verrückt machen. Die meisten Geschichten sind Anekdoten oder stammen aus Zeiten, in denen sie Kinder mit Ritalin buchstäblich ausgeschaltet haben.

Such dir einen guten, verantwortungsvollen Arzt. Lass dich richtig durchchecken und vernünftig einstellen. Ja, Methylphenidat sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Nicht umsonst fällt es unter das Betäubungsmittel-Gesetz. Aber es ist legal und eben auch kein Crystal Meth.

Ab wann ist man ein Experte?

Dass ich bereits mein ganzes Leben von ADHS betroffen bin, ist für mich nun glasklar. Dafür finden sich zu viele Indizien über fünf Jahrzehnte verstreut. Vor allem Menschen, die mich sehr lange kennen, habe ich oft durch die Erinnerung an zwei bis drei gemeinsame Erlebnisse schnell überzeugt. Es finden sich bei genauer Betrachtung sogar einige Anhaltspunkte, die transgenerational sind. Bewusst ist es aber eben erst seit Anfang 2023.

Als ich dann kürzlich zu jemandem sagte, der mich nach Rat fragte: „Sorry, ich bin da einfach kein Experte.“ musste ich kurz innehalten. Weil, eigentlich bin ich das ja doch. Denn ich bin ja in meinem Leben auch dort angekommen, wo ich bin. Familienvater, seit über 20 Jahren verheiratet. Unternehmer und auf vielen Ebenen erfolgreich. Also werde ich wohl Wege und Methoden gefunden haben, trotz dieser Behinderung durchs Leben und hierhergekommen zu sein. Instinktiv und intuitiv. Vielleicht so, wie man Laufen lernt. Indem man immer wieder hinfällt, aufsteht, es erneut probiert. Stoisch, bis es klappt. Und man im Leben steht.

Darüber nachzudenken und herauszufinden, welche Tools und Gewohnheiten ich mir unbewusst erarbeitet habe, das möchte ich ab jetzt tun. Vor allem mit dem Fokus darauf, wie ich trotz all dieser Hindernisse und durch diese Gaben Kreativunternehmer werden konnte. Was mir dadurch schwerer fiel. Aber auch, wo es für mich durch die positiven Aspekte der ADHS vielleicht leichter war, Dinge anzugehen und umzusetzen.

Lass uns dazu austauschen

Hier möchte ich vorerst abschließen. Mit einer Einladung, an Dich uns auszutauschen. Über Deine und meine Erfahrungen. Zu Fragen und Anmerkungen. Gerne per E-Mail an markus@freise.de. Lade mich in deinen Podcast ein. Oder einfach mal in echt treffen und plaudern.


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