Facebook, Zigaretten und die Unendlichkeit der Stadtbibliothek vom
Facebook, Zigaretten und die Unendlichkeit der Stadtbibliothek
Jeder kennt diese Anekdoten über den Partner oder die Partnerin, die man immer wieder jedem erzählt, um diese liebenswerten Verschrobenheiten, die man so sehr ins Herz geschlossen hat, zu verdeutlichen. Eine der Geschichten, die meine Liebste gerne über mich erzählt geht so:
In meiner damaligen Junggesellen-Wohnung am Kilianplatz in der Paderborn hatten wir eines Nachmittags die Idee, einen Schrank in ein anderes Zimmer zu räumen. Gesagt und angepackt. Jedoch mitten in der Aktion, als wir gerade auf Höhe des Flurs und weit vom Ziel entfernt waren, setzte ich den Schrank ab und zündete mir erstmal eine an. Einfach so, aus dem Impuls heraus und völlig unpassend. Ende.
Ein kurze Story. Dennoch ist sie sinnbildlich für meine Art gewesen, wie ich damals mit meinem Nikotinkonsum umging. Er war in mein Handeln eingegangen, wie Niesen oder Atmen. Unbewusst und impulsiv. Um eine längere Geschichte kurz zu machen: Auch aufgrund dieser Episode erkannte ich kurz drauf, wie sehr mir dieses Rauchen im Weg stand und wie oft es in unpassende Momente hineingrätschte, den Fokus in Teilen meines Lebens auf Unwichtiges verschob.
Wenige Monate später – am 1. Juni 2002 – gab ich das Rauchen auf. Vor allem deshalb. Einfach so. Und habe es seitdem nicht eine Sekunde vermisst. Irgendwie habe ich von einem auf den anderen Tag genauso selbstverständlich nicht geraucht, wie ich vorher geraucht hatte.

1999 im LPC (Lucky People Center) in Paderborn.
Exakt genau so, wie in der Geschichte mit dem Schrank, bin ich in den vergangenen Monaten mit meinem Informationskonsum und vor allem Facebook umgegangen. Ich klickte meine Timeline auf, wo immer ich stand und saß. Rollte die Chronik herunter und herauf und die Postings rauschten an mir vorbei. Nahezu jeder freie Platz in meiner Handlungs- und Gedankenkette wurde von dem Impuls eingenommen, mal eben zu schauen, was es Neues gab auf der Welt, Bilder und Gedanken zu posten und wie die Leute auf meine Postings reagiert hatten. Jedes Erlebnis in der realen Welt verwandelte sich in meinem Denken blitzschnell in eine dazu passende Statusmeldung. Dass ich mit Größväterland parallel eine Crowdfunding-Kampagne laufen hatte, deren zentrales Vermarktungs-Instrument Facebook war, machte es nicht besser.
Es gibt immer wieder viel Neues auf der Welt und wenn man wie ich – meine Chronik und Seiten zusammengefasst – weit über tausend Freunde und Fans hat, sind das eine Menge Postings und Meinungen über eine Menge verschiedenster Themen, die einem da ans Medienkonsumherz gelegt werden.
Das wirkliche Problem ergab sich daraus, dass ich seit jeher ein Informationsschwamm bin. Schon damals, zu Hause in Rietberg, las ich so ziemlich jedes Magazin und jede Zeitung die bei uns herumlagen. Von der ADAC Motorwelt bis zur Tageszeitung. Vom Goldenen Blatt bis zur GEO. Und wenn ich damit fertig war, radelte ich nach Gütersloh in die Bibliothek und verbrachte dort Nachmittag um Nachmittag und bildete mich weiter. In einer Welt mit ganz klar definierten Grenzen ist das eine wunderbare Eigenart, die mir viel Wissen in vielerlei Hinsicht beschert hat und mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin: Ein programmierender Grafik-Designer, der sich Nachts als Comic-Zeichner verkleidet und dessen Tarnidentität ein Poetry Slammer ist. Ganz klar: Ich möchte niemand anderes sein.

Die Stadtbibliothek Gütersloh. Quelle: Wikipedia
Das Internet: <3 und :-(
Das Internet ist, so wie es ist, eine wundervolle Erfindung, die vieles verändert hat. Nur eines nicht. Das Raum-Zeit-Kontinuum, die Fundamente der Gesellschaft und den menschlichen Organismus. Noch immer hat ein Tag 24 Stunden. Weiterhin muss der kapitalistische Laden durch Arbeit und Konsum am Kacken gehalten werden. Und bis auf weiteres ist Schlafentzug nicht ohne Grund eine beliebte Foltermethode. (Fun Fact: Der Entzug von Schlaf führt noch vor dem Entzug von Nahrung zum Tod. Nur Wasser ist noch dringender notwendig.)
Facebook hat der Sache nun eine weitere Dimension hinzugefügt. In der Form, als ob alle deine Freunde und Freundesfreunde dir ständig ungefragt ihre Lieblingsbücher aus den verschiedensten Abteilung auf den Tisch in der Cafeteria knallen, in der du mit Cola und Snickers sitzt und schon deine selbst herausgesuchten Medien nicht konsumieren kannst. Du kannst ihnen das nicht verübeln, die zwingen dich ja auch nicht, ihre Dinge zu lesen. Sie empfehlen ja nur. Nur bist du eben ein Informationsschwamm und du kannst die Bücher nicht nicht lesen. Es ist einfach ein wesentliches Merkmal deiner DNA. Es ist du.
Und doch kommst du an diese Punkte, an denen es soviel Raum beansprucht, dass es die Muse killt.
Also: Was tun?
Ich weiß es wirklich nicht. Denn hier ist der ganz wesentliche Unterschied zur oben beschriebenen Geschichte mit dem Rauchen. Rauchen ist etwas grundsätzlich dummes. Es gibt nichts gutes am Rauchen. Nichts. Also: Nichts. Tatsache. Sich aber zu bilden – vor allem über den eigenen Tellerrand hinaus – ist etwas gutes. Es öffnet Türen und Möglichkeiten zu Handeln, die sonst verschlossen blieben. Ich bin mir sicher, ohne Blogs und Facebook und das Feedback meiner dortigen sozialen Kontakte hätte ich den Traum, Comic-Zeichner zu werden, niemals realisieren können. Ich hätte nicht mit Anfang 40 den erneuten Schritt in die Freiberuflichkeit als Web-Designer gewagt.
Ich bin zu 100% sicher, dass Facebook und andere soziale Netzwerke etwas sehr gutes und wichtiges sind. Don’t blame the Bibliothek for the Bücher. Doch der impulsive Aufruf von Facebook zu Zeitpunkten in denen es völlig unangebracht war und der unkontrollierte und ungefilterte Konsum von Medien haben mich dazu veranlasst, die Bibliothek vorerst zu verlassen. Mindestens bis Ende Januar. Undogmatisch, aber konsequent. Ich brauche für die Zukunft eine Strategie.
Mich würde interessieren, welche Strategien ihr habt, mit dieser Informations- und Meinungsflut umzugehen.
Solltet ihr das hier kommentieren wollen, tut das bitte hier im Blog. Kommentare auf Facebook und Co. werde ich – wenn überhaupt – erst später lesen.
[…] schrieb heute, warum er eine Facebook-Pause macht. Damit ist er beileibe nicht der erste, der das für sich für gut erachtet. Auch meine […]
[…] ich übersehen? Wenn Ihr darauf antworten mögt, dann bitte hier, da ich mich aktuell im Facebook-Sabbatical befinde und Kommentare dort nicht […]
Schöner Vergleich, der zu einer im Mellow mitgehörten Konversation passt …
Er: Ich hör auf mit Rauchen, wenn Du aufhörst mit Facebook.
Sie (ohne zu zögern): Auf keinen Fall!
Ich hab ja aus ziemlich genau den Gründen mal ein Jahr auf ein Dumbphone zurückgeschaltet und mir extra einen Feedreader gebaut, in dem immer nur alle Items von gestern drin stehen, damit es sich nur einmal am Tag lohnt da reinzuschauen. Für fast alles ist mir das echt schnell genug. Und ich bin fast am überlegen, daraus einen Email-Digest zu machen, weil sich Email für mich eigentlich immer mehr als der beste Informationskanal darstellt.
Lustigerweise bin ich aber auch just in den letzten Tagen versucht, mir doch mal einen Facebook-Account zuzulegen, weil es inzwischen echt einige „Mitspieler“ gibt, die nur noch dort aktiv sind. Vielleicht schaue ich aber auch einfach mal in die API und bau das mit in Chiron ein. An das meiste kommt man ja vermutlich über die API ran …
Wundervoll Ben. Das erinnert mich daran, dass ich Chiron noch installieren wollte. Auch wenn RSS für mich kein Stressfaktor ist. Meine Feedliste ist echt ziemlich übersichtlich. Die räume ich regelmäßig auf.
Zu Facebook: Das Ding ist eben, dass Facebook an sich ja gar nicht böse ist. Facebook ist ein ganz wunderbares Werkzeug und eben ein soziales Netzwerk, in dem man mit großartigen Menschen interagiert. Es ganz sein zu lassen steht nicht zur Debatte und ist mir zu extrem.
Ich werde mir aber in jedem Fall mal die Filter- und Gruppenfunktionen ganz genau anschauen. „Leider“ kann ich nämlich auch meine Freundesliste nicht einfach entrümpeln, da ich ja so auch die Kontakte in die andere Richtung verliere, also die als Leser. Mal sehen. Ich bin da ganz entspannt. Dich auf Facebook wieder zu treffen wäre natürlich sehr nett.
Hallo Markus, ich stelle gerade fest, ich bin wohl einer der glücklicheren Bewohner des Planeten. Von dem was ihr hier schreibt verstehe ich nicht ein Zehntel mit all den Abkürzungen und es macht mich auch nicht besonders neugierig zu erfahren was dahinter steckt. Facebook ist sicher faszinierend aber auch beängstigend. Wir werden alle immer mehr zu Showläufern, die mal virtuell ausprobieren, wie der Rest der Menschheit auf uns reagiert . So ersparen wir uns die Konfrontation mit der direkten Kommunikation und der spontanen Reaktion unserer Umwelt. Ich glaube wir brauchen beides im richtigen Mass und im Zweifelsfall ist der direkte Kontakt der wichtigere weil reale. Ich find es toll, dass Du das Thema mal kritisch betrachtest und probierst wie es ist mit weniger ist mehr. Lieben Gruß, Dagmar
Liebe Dagmar,
tatsächlich sehe ich mich da gar nicht in Relation mit anderen Menschen. Wer nun der glücklichere ist, spielt keine Rolle. Im Sinne meines vor einiger Zeit erarbeiteten – und zwischenzeitlich vergessen – Mission Statements, mehr Achtsamkeit zulassen zu wollen, schaue ich dabei einzig und allein auf mich.
Zum Beispiel Dein Einwurf mit dem Treffen in der realen Welt. Ich bin tatsächlich eher ein introvertierter Mensch. Manchmal fällt es mir schwer auf Menschen zuzugehen. Für mich sind Werkzeuge wie E-Mail, Facebook oder Messaging oft sehr hilfreich, um bestimmte Barrieren erst gar nicht entstehen zu lassen oder im Vorfeld bei Seite zu räumen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Wie ich schreibe: Das alles ist kein Dogma. Und auch keine Belehrung. Es ist einfach ein aktuelles Statement.
Morgen gibt es eine neue Welt.
P.S. RSS-Feeds sammeln Informationen aus vorher abonnierten Webseiten zusammen und stellen diese gebündelt dar. Sie sind sozusagen für Menschen wie Ben und mich die Tageszeitung. Nur eben ohne den ganzen Mist, der uns nicht interessiert.
Lieber Markus,
Deinen Artikel hier, hab ich nur gelesen weil ein anderer Artikel (Email graphic novel Dings) mich her brachte. Total schade weil mir hier ein schönes Stück „Gedanken“ fast entglitten ist. Facebook habe ich seit Sonntag ausgeschaltet, weil es mich extrem in meinem kreativen weitergehen „hindert“. Also nicht Facebook hindert mich sondern ich lass mich hindern. Das ist wohl das größte Problem das Menschen wie du und ich haben (habe mich in deiner Ausführung mit damals wie das alles war, total wieder gefunden) . Ich bin auch so ein Schwamm und kann das alles auch gut sammeln, weitergeben, kommentieren etc. Nur bleibt dann extrem viel gutes stehen.
Ich für mich werde es so wie früher machen – eine Sache aufbauen, fertig machen dann erst mit anderen austauschen. Schade, dass der Tag nur 24h hat – ich bräuchte 48h :)
@Markus: Dann warte mit der Installation von Chiron noch, bis es bei WordPress.org ist. Das ist einer der ersten Sachen, die ich nach Abschluss der Kita-Einführung machen werde.
Was Facebook angeht: Naja … die sind schon böse. Facebook macht halt (wie Microsoft, Apple, Amazon und Google auch) absichtlich und systematisch „Mittelbau“ platt und verfolgt zentralistische und monopolistische Ziele und arbeitet aktiv gegen eine offene und dezentrale Architektur im Netz. So „wunderschön“ und effektiv es als Werkzeug auch sein mag, keine Frage. Aber es geht da um nicht weniger als um Deinen und meinen Job.
Ben, mir geht es nicht um die Bewertung von Facebook und Co. als Unternehmen sonder als Phänomen.
Da „draußen“ laufen halt diese ganzen Gestalten herum, die einem weis machen wollen, dass die Nutzung von Facebook böse ist. Sozusagen die Killerspiel-Skeptiker des Social Networkings. Gegen diese Gedanken wehre ich mich, wenn ich sage, dass Facebook nicht böse ist. Was es eben zu vermeiden gilt – und hier schlagen wir gerne die Brücke zurück zu den Killerspielen – ist ein unachtsamer Umgang mit all diesem.
[…] Warum und weshalb ich fluchtartig meine Timeline hinter mir ließ, lässt sich im Artikel Facebook, Zigaretten und die Unendlichkeit der Stadtbibliothek […]
[…] ich dann doch in der Timeline hängen bleibe. Empfehle dazu auch alle Neulesern den Beitrag “Facebook, Zigaretten und die Unendlichkeit der Stadtbibliothek“. Hier geht es zum Messenger von […]
[…] erwähnt – aber der Schatz an Material ist so umfänglich. Manchmal erinnert mich das an die Nachmittage in der Stadtbibliothek Gütersloh. Stöbern und aufsaugen. Die Bandbreit ist dabei sprichwörtlich unfassbar. Von TED-Vorträgen bis […]
[…] erwähnt – aber der Schatz an Material ist so umfänglich. Manchmal erinnert mich das an die Nachmittage in der Stadtbibliothek Gütersloh. Stöbern und aufsaugen. Die Bandbreit ist dabei sprichwörtlich unfassbar. Von TED-Vorträgen bis […]